4.2.2

Leerstellen ermöglichen Mitvollzug des Lesers

 

"Die Leerstellen eines literarischen Textes sind nun keineswegs, wie man vielleicht vermuten könnte, ein Manko, sondern bilden  einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung. Der Leser wird sie in  der Regel bei der Lektüre des Romans nicht eigens bemerken. Dennoch  sind sie auf seine Lektüre nicht ganz ohne Einfluss [...]. Der  Leser  wird die Leerstellen dauernd auffüllen beziehungsweise beseitigen. Indem er sie beseitigt, nutzt er den Auslegungsspielraum und  stellt selbst die nicht formulierten Beziehungen zwischen den einzelnen  Ansichten her. Dass dies so ist, lässt sich an der einfachen  Erfahrungstatsache ablesen, dass die Zweitlektüre eines literarischen  Textes oftmals einen von der Erstlektüre abweichenden Eindruck produziert. Die Gründe dafür mögen in der jeweiligen Befindlichkeit des Lesers zu suchen sein, dennoch muss der Text die Bedingungen für  unterschiedliche Realisierungen enthalten. [...] Bekannte Vorgänge rücken nun in neue, ja sogar  wechselnde Horizonte und erscheinen daher als bereichert, verändert und korrigiert. Von alledem ist im Text selbst nichts formuliert; vielmehr  produziert der Leser diese Innovationen. Das wäre aber unmöglich, enthielte der Text nicht einen gewissen Leerstellenbeitrag, der den  Auslegungsspielraum und die verschiedenartige Adaptierbarkeit des Textes  überhaupt ermöglichte. In dieser Struktur hält der Text ein Beteiligungsangebot an seine Leser bereit. [...] Erst die  Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens." 

(Iser 1971, S. 234–236)