4.2.1

Der systematische Ort von Leerstellen

 

"Literarische Gegenstände kommen dadurch zustande, dass  der Text eine Mannigfaltigkeit von Ansichten entrollt, die den Gegenstand  schrittweise hervorbringen und ihn gleichzeitig der Anschauung des Lesers  konkret machen. Wir nennen diese Ansichten im Anschluss an einen von  Ingarden geprägten Begriff "schematisierte Ansichten" [...]. Offensichtlich bedarf es vieler solcher Ansichten, um den literarischen  Gegenstand mit zureichender Deutlichkeit vorstellbar zu machen. [...]  Diese elementare Beschaffenheit des literarischen Textes bedeutet, dass  die "schematisierten Ansichten", durch die der Gegenstand  entrollt werden soll, oftmals unvermittelt aneinander stoßen. Der Text  besitzt dann einen Schnitt. Die häufigste Verwendung dieser  Schnitttechnik findet sich dort, wo mehrere Handlungsstränge gleichzeitig  ablaufen, aber nacheinander erzählt werden müssen. Die Beziehungen, die  zwischen solchen übereinander gelagerten Ansichten bestehen, werden in  der Regel vom Text nicht ausformuliert, obgleich die Art, in der sie sich  zueinander verhalten, für die Intention des Textes wichtig ist. Mit  anderen Worten: Zwischen den "schematisierten Ansichten"  entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinander  anstoßenden Ansichten ergibt. Solche Leerstellen eröffnen dann einen  Auslegungsspielraum, in dem man die in den Ansichten vorgestellten Aspekte  aufeinander beziehen kann. Sie sind durch den Text überhaupt nicht zu  beseitigen." (Iser 1971)

Hinsichtlich der Art, wie Textschichten aufeinandertreffen können, unterscheidet Iser vier Modalisierungen:

  • die kontrafaktische, die ein hierarchisches Verhältnis von Vordergrund- und Hintergrundperspektiven herstellt,
  • die oppositive, die durch einen Gegensatz von Anschauungen bzw. Protagonisten bestimmt ist,
  • die gestaffelte, die verschiedene Perspektiven in eine hypotaktische (=aufeinander aufbauende) Anordnung bringt,
  • und die serielle, die verscheidene Perspektiven ohne organisierendes Zentrum nebeneinander stellt (="Parataxis").

(Iser 1976, S. 170 ff.)