4.1.1

Zur Funktion der "Unbestimmtheitsstellen" bei Ingarden

 

"Das Vorhandensein der Unbestimmtheitsstellen in der gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes lässt vor allem die Möglichkeit zweier verschiedener Weisen des Lesens zu:

  • Manchmal bemüht sich der Leser, alle vorhandenen Unbestimmtheitsstellen als solche zu beachten und sie im Zustand der Unausgefülltheit zu belassen, um das Werk in seiner für es charakteristischen Struktur zu erfassen.
  • Gewöhnlich aber lesen wir literarische Werke auf eine völlig andere Weise: wir übersehen gewissermaßen die Unbestimmtheitsstellen als solche und füllen viele von ihnen unwillkürlich mit Bestimmtheiten aus, zu welchen uns der Text nicht berechtigt.

Wir gehen somit bei der Lektüre in verschiedenen Punkten über den Text hinaus, ohne uns deutlich Rechenschaft davon zu geben. Wir tun es zum Teil unter der – wenn man so sagen darf – suggestiven Wirkung des Textes, zum Teil aber auch unter dem Einfluss einer natürlichen Neigung, da wir daran gewöhnt sind, individuelle Dinge und Personen durch Momente niederster Differenz für allseitig bestimmt zu halten.

Der Grund dafür liegt auch darin, dass die in literarischen Kunstwerken dargestellten Gegenstände im Allgemeinen den Seinscharakter der Realität an sich tragen, so dass es uns dann natürlich scheint, wenn sie ebenso wie die echten, realen, individuellen Gegenstände durch niederste Qualitäten allseitig und eindeutig bestimmt sind." (Ingarden 1968, S. 46)