3.4

Was heißt Lesen?

 

Unsere Befunde über die Geschichte der (analogen) Lesarten könnte man mit diesem Zitat von Martin Heidegger zusammenfassen:

Was heißt Lesen? Das Tragende und Leitende im Lesen ist die Sammlung. Worauf sammelt sie? Auf das Geschriebene, auf das in der Schrift Gesagte. Das eigentliche Lesen ist die Sammlung auf das, was ohne unser Wissen einst schon unser Wesen in den Anspruch genommen hat, mögen wir dabei ihm entsprechen oder versagen.

(Heidegger 1954, S. 111)


Um das Heidegger-Zitat zu verstehen, muss man wissen, dass unser Wort "lesen" vom griechischen "legein" bzw. lateinischen "legere" abgeleitet ist und ursprünglich "sammeln" im Sinne von "einsammeln" bedeutet – was auch in unseren Worten "Traubenlese", "Blütenlese" etc. noch enthalten ist. Zugleich verbindet sich mit dem Begriff des Sammelns schon früh die Bedeutung des Sich-Sammelns, der Kontemplation – etwa im Knochenorakel, bei dem der Prozess des Einsammelns der Knochen zugleich eine Konzentration auf das eigene Schicksal bewirkte. Auf diesen doppelten Sprachgebrauch spielt Heidegger hier an.