3.3

Lesen als produktiver Prozess

  

Auch für die Situation nach Einführung der Schrift als konventinalisiertem Code gilt das zuvor Gesagte: Was die Schrift jeweils bedeutet, wird durch den Leser konstituiert. Auch konventionelle Schriftzeichen müssen vom Leser gedeutet werden, um Sinn für ihn zu bekommen. Und da ihre Deutung vom jeweiligen Vorverständnis des Lesers – seinem kulturell und biographisch erworbenen Wissenshorizont – abhängt, ist ihre Bedeutung niemals festgelegt, sondern unterliegt variablen Prozessen der Sinnproduktion.

Dieser Doppelcharakter der Lektüre zwischen der Dekodierung von Schriftzeichen und der Produktion von Bedeutungen zieht sich durch alle Epochen der – bisherigen – Geschichte des Lesens. Immer schon unterschieden die Schrifttheoretiker zwischen expliziter und impliziter Aussage, zwischen dem "Buchstaben" und dem "Geist" eines Textes, und entwarfen Anleitungen, wie man "zwischen den Zeilen" liest.

Bevor wir uns einigen der wichtigsten zeitgenössischen Texttheorien zuwenden, bei denen dieser Doppelcharakter der Lektüre besondere Berücksichtigung erfährt, lassen wir einen Philosophen zu Wort kommen, der eine entsprechende Definition des Lesens anbietet ...