3.2

Das Lesen geht der Schrift voraus

 

Wir haben uns zu sehr an das informationstechnische Maschinenmodell des Lesens gewöhnt, um auf Anhieb einzusehen, dass dem Lesen der Primat vor der Schrift zugesprochen werden muss.

Unser Wort "lesen" kommt vom griechischen "legein" und lateinischen "legere", was wörtlich mit "sammeln" zu übersetzen ist. Dieser Wortsinn findet sich auch noch in unserem Sprachgebrauch, wenn wir etwa von "Weinlese" sprechen oder davon, dass wir heruntergefallene Kleinteile vom Boden "auflesen". Was wir also lesen, muss nicht notwendig Schrift sein bzw. wird erst dadurch zur Schrift, dass wir es für lesbar erklären – etwa, wenn wir von der "Handschrift" eines Täters sprechen, der sich durch bestimmte Tatprofile auszeichnet.

Den semantischen Übergang von dieser weiteren Bedeutung des Worts "lesen" zur engeren können wir z. B. am nordischen Runenorakel nachvollziehen, bei dem Tierknochen mit heißem Eisen zum Zerspringen gebracht wurden. Die Teile wurden dann eingesammelt und dabei das Orakel "gelesen".

Der eigentliche Begriff des Lesens fügt also der äußeren Sammlung eine innere Sammlung hinzu, die nötig ist, um einen Text zu entziffern. Dass dieser "Text" nicht unbedingt aus Schrift im konventionellen Sinne bestehen muss, können wir an der alten Metapher vom "Buch der Natur" ablesen, die eine Lesbarkeit der Welt (Blumenberg 1981) vor aller Schrift unterstellt, wie z. B. in dem folgenden Dialog aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre:


"Wenn ich nun aber", versetzte jener, "eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?"
– "Nein, aber es scheint mir ein weitläufiges Alphabet."
– "Enger, als du denkst; man muss es nur kennen lernen wie ein anderes auch. Die Natur hat nur eine Schrift, und ich brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen. Hier darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, dass ein scharfer Kritikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben."
– Lächelnd versetzte der Freund: "Und doch wird man auch hier deine Lesarten streitig machen."

Goethe (1820/29), S. 34.