2.2.3

Ambiguitätstoleranz

 

Das Textverständnis erschließt sich beim Lesen nicht im sukzessiven Verlauf, sondern analog zum Wechselspiel von Protention und Retention bei der Worterkennung.

Ambiguitätstoleranz der Protention
Lesen Sie die folgenden Sätze sehr langsam. Erschließt sich ihr Sinn kontinuierlich?

        a) Um das Schloss zu kaufen, mussten sie es erst waschen: das Geld, das aus dem Bankraub stammte.
        b) Das Schloss, das sie gekauft hatten, klemmte.
        c) Was sie von den anderen Bankräubern unterschied, war ihre Herkunft: Sie stammte aus Sachsen.

Mehrdeutige Worte ("Schloss", "es", "waschen", "sie") wecken unter Umständen falsche Bedeutungserwartungen, die dann je nach Kontext korrigiert werden. Dass dies möglich ist, ohne den Sinn komplett zu verlieren, weist darauf hin, dass die Protentionen ambiguitätstolerant sind.

Der Kontrast zwischen Protention und Retention wird bisweilen als Stilmittel zur Erzeugug von Überrschaungseffekten eingesetzt:

Bewältigung von Kollisionen zwischen Protention und Retention
Lesen Sie die folgenden Sätze wiederum sehr langsam:

        a) Das Licht am Ende des Tunnels gehörte zu einem entgegenkommenden Zug.
        b) Das einzig Positive auf dieser Etappe war sein Doping-Test.

Auch wenn Protention und Retention sich diametral widersprechen, muss die Kollision nicht zum Verstehensabbruch führen, sondern kann einen neuen Sinn erzeugen.