1.1

Die drei Lernstufen beim Lesen und ihre Anfälligkeit für Lesefehler

1) Logographisches Lesen

Dies ist der erste Schritt beim Lesenlernen: Ein Kind entnimmt aus visuellen Anzeichen, um welches Wort es sich handelt. Zum Beispiel wird der typische Coca-Cola-Schriftzug als Coca-Cola gelesen, auch wenn er zu Cola-Coca, Calo-Coco oder Caca-Caca verfremdet ist. Diese Art der Merkmalserkennung bleibt beim Lesen stets involviert.

2) Alphabetisches Lesen

Solange die Buchstaben noch gelernt werden, ist das serielle Entziffern eines Wortes und der Vergleich mit dem zugehörigen Lautbild eine notwendige Stufe. Aber es ist eben nur eine Übergangsstufe.

C-o-c-a   C-o-l-a
T-e-m-p-o

3) Orthographisches Lesen

Geübte Leser achten nicht mehr auf jeden einzelnen Buchstaben, sondern auf die gesamte Wortgestalt. Diese Lesestufe entspricht also wieder mehr der ersten und ist für Lesefehler entsprechend anfällig. So wird die Individalität einzelner Buchstaben oft gar nicht bemerkt (oder haben Sie bemerkt, dass das Wort Individualität vorhin falsch geschrieben war?) bzw. es werden ganze Worte je nach Erfahrungshintergrund des Lesers modifiziert – etwa wenn eine Leseforscherin berichtet, dass ihr "nach einem Tag im Frauenbuchladen die Lebensversicherung auf der Reklamewand zur Lesbenversicherung wird" (Bergermann 1994), oder eine studentische Hilfskraft folgendes in unsere Datenbank eintrug und damit verriet, was sie lieber täte als Literatur zu Aby Warburgs "Nachleben der Antike" aufzunehmen:

Was auf der buchstäblichen Ebene als bloße Fehlleistung erscheint – das Auffüllen von Ungenauigkeiten der Wahrnehmung durch die Imagination des Lesers – ist auf der Ebene größerer Texteinheiten ein notwendiger Anteil an der Sinnproduktion, der von literarischen Texten auch gezielt intendiert wird (vgl. 3.2).