2.1.2

Kemps Beispiel

Astnn

Kemp (1985) exemplifiziert an Gérômes Gemälde Der Tod des Marschall Ney, das die Situation kurz nach der Erschießung eines Zivilisten zeigt, verschiedene Arten piktoraler Leerstellen: Die bildbeherrschende Fläche einer Mauer, vor welcher der Getötete liegt, in die der Betrachter also das vergangene Geschehen hineinzuprojizieren hat; den im Bild nicht dargestellten Standort der Täter, der nur durch die Bewegungsrichtung eines zurückblickenden Soldaten zu erschließen ist; die bildliche Unbestimmtheit der Handlung und die fehlende Stellungnahme des Künstlers, die an das historische Erinnerungsvermögen des Rezipienten appellieren.

Das Beispiel macht deutlich, daß piktorale Leerstellen nicht einfach Auslassungen sind, sondern Bildelemente, die Kombinationsleistungen des Betrachters anstoßen:
So wird die Mauer erst im Kontext des davor liegenden Toten zur Projektionsfläche seiner imaginierten Erschießung; ohne den zurückblickenden Soldaten wäre sie auch nicht als Zielrichtung der Schützen auszumachen; die Bekleidung der Personen schließlich gestattet bei aller historischen Unbestimmtheit des Geschehens immerhin eine epochale Zuordnung, ohne die sie kaum einen Erinnerungsanlaß böte.


Léon Gérôme: Tod des Marschall Ney (1868). Sheffield, City Art Galleries

Doch derartige Bildstrategien gibt es nicht erst im 19. Jahrhundert. Zur Erläuterung des erinnernden Sehens unter den Bedingungen analoger Medien läßt sich ebenfalls auf eine antike "Urszene" rekurrieren, die als Vergleichsgrund für die veränderten Gegebenheiten digitaler Medien besonders geeignet ist: der Pygmalion-Mythos.