2.1.1

Piktorale Leerstellen

 

Isers Leerstellenmodell läßt sich nicht ohne weiteres auf die bildende Kunst übertragen. Während ein Leser von den individuellen Eigentümlichkeiten des Schriftbildes in der Regel absehen muß, um Texte zu verstehen – Aleida Assmann (1988) unterscheidet diesbezüglich das "reading" vom "gazing" –, muß sich ein Betrachter in die Oberflächengestalt versenken.

Diese Differenz affiziert auch das Funktionieren von Leerstellen. Eine Erzählung etwa könnte sich mit der Auskunft begnügen: "Die geliftete Frau sah nicht jünger aus, sondern überrascht" – und der Leser wird sich herausgefordert fühlen, mit Hilfe von Einbildungskraft und Erinnerung die literarisch nur angedeuteten Gesichtszüge zu ergänzen. Ein Bild kann nicht in dieser Weise an die Imagination appellieren. Es muß den überraschten Gesichtsausdruck darstellen.

Aber auch dabei freilich gilt das Monitum Diderots (1763): "Wenn man malt, muß man alles malen? Habt Erbarmen und laßt eine Lücke, die meine Phantasie ausfüllen kann" (Bd. 1, S. 440). Und obwohl Isers Konzept in der Kunstgeschichte bisher wenig Beachtung gefunden hat, ist es der Sache nach hier eigentlich zuhause. Schließlich geht der Begriff "Leerstelle" dem Wortsinn nach auf eine bildliche Wahrnehmung zurück. Und wenn etwa Winckelmann (1759) beschreibt, wie der Torso im Belvedere eine unwillkürliche Ergänzung der fehlenden Glieder motiviert (S. 281) oder Veronese vor der Inquisition aussagt, wo "in einem Gemälde Platz frei" sei, "bereichere" er es "mit weiteren Figuren gemäß der heiligen Schrift" (nach Kemp 1985, S. 330), so werden hier Leerstellen beschrieben, die im Sinne Isers als ästhetische Erinnerungsanlässe fungieren.